GEA 02/2011
Leben mit dem Fremden in sich
Wir haben uns doch so schön an die Vorstellung gewöhnt, dass wir in unserem Körper alleine regieren. Dass Arme, Beine, Kopf und Zunge unserem Willen und nicht ihrem eigenen gehorchen. Genau betrachtet ist das Fiktion. Richtig anschaulich wird das aber erst bei Menschen mit Tourette-Syndrom. Bei ihnen haben die Gliedmaßen nicht nur einen „eigenen Willen“, sondern setzen ihn in Form von „Ticks“ auch heftig durch.
Michael Broszius hat das Tourette-Syndrom. Seine Erfahrungen damit, hat der in Reutlingen lebende Grafiker, Künstler, Autor und Familienvater in einem kleinen Band festgehalten. Keine Krankengeschichte, sondern Gedichte, Gedanken, rhythmische Prosa. Spielerisch setzt er sich darin mit dem Verhältnis von Ich und Körper auseinander.
Ganz ohne Selbstmitleid, dafür mit viel Humor und Hintersinn schildert Broszius, wie sich in seinem Erleben Ich und Körper als unabhängige Akteure gegenüberstehen . Mal ist dieser zweite Akteur für ihn ein Gegenspieler, dann ein Tanzpartner, dann wieder ein eigenwilliger Zwilling. Die Erfahrung, dass im eigenen Körper noch ein anderer Wille haust, wird für ihn zur Herausforderung – und schärft seinen Blick für die heikle Balance der eigenen Indentität.
Es ist genau dieser geschärfte Blick, der die Texte ausmacht. Zwar geht Broszius mit seinem ausgeprägten Gefühl für Sprachfluss und Wortspiele auch anderen Themen nach – am stärksten sind jedoch zweifellos seine Beobachtungen des „vertrauten Fremden“ in sich. Ein Fremdes, das sich Menschen mit Tourette-Syndrom vielleicht offensichtlicher aufdrängt – das aber letzlich wohl in jedem von uns steckt. (akr)