Tagblatt 05/2012

11.05.2012

Kurzes Schmunzeln. Shit.

Wannweil. Ein Haus voller Kunstwerke. Im Treppenhaus hängen abstrakt verschlungene Monotypien und „Fleckenbilder“, im Wohnzimmer sind großformatige Öl- und Acrylgemälde zu sehen, im Weinkeller stehen „Objektrahmen“, in denen sehr persönliche Texte künstlerisch gestaltete Rahmen bekommen haben. „Das Leben beginnt, wenn der Zweifel stirbt“, ist in einem davon zu lesen.

Der Künstler Michael Broszius erfindet sich immer wieder aufs Neue. Vor einem Jahr ist er mit Frau und Tochter nach Wannweil gezogen, wo er das Haus im Vogelsang alle paar Jahre einen Tag lang für (H)Ausstellungen öffnen will. Die erste war Ende März, 50 Leute kamen. Schon als er noch in Reutlingen lebte, hat er in leer stehenden Räumen „offene Ateliers“ eingerichtet, wo man ihm beim Arbeiten zusehen und gerne auch Fragen stellen konnte. „Das war mir zu heftig, alle vier, fünf Monate umziehen“, sagt er heute.

Im Brotberuf ist Broszius Grafik-Designer. Nach dem Studium an einer Privatschule in Fellbach arbeitete er zehn Jahre lang in einer Agentur in Sigmaringen und Reutlingen. 2010 hat er sich dann selbstständig gemacht. Er gestaltet in Wannweil Werbung, Prospekte, Filme, Websites.

Seine Kunden sind Unternehmen von Maschinenbauern bis Immobilienmaklern. Der Designer bekommt auch Aufträge von seinem früheren Arbeitgeber. „Ich mache mein Ding“, sagt er stolz in seinem Büro, vor den drei großen Bildschirmen. An der Volkshochschule hält er als drittes Standbein Infoabende über Grafik-Design. Er meint: „20 Jahre dasselbe Ding würde mich selbst nicht ausfüllen.“

Die Krankheit hat in ihm geschlummert

Der gebürtige Heilbronner lebte sechs Jahre bei Ravensburg; 2005 kam er nach Reutlingen. Nebenher hat er „schon immer“ Kunst gemacht. „Mit Design verdiene ich das Geld. Da muss alles stimmen, in der Kunst kann ich mich auch gehen lassen. Das ist ein Ausgleich, der mir gut tut.“ Der 36-Jährige lädt zu Wein-Kunst-Proben im privaten Keller, darüber hat er ein Video gedreht. Er hat schon mehrfach seine Werke ausgestellt, zuletzt in der Wankheimer Galerie „weXelwirken“.

Sein Handicap hat Broszius in den Alltag integriert. Im sechsten Lebensjahr wurde bei ihm nach einer Mandel-Operation das Tourette-Syndrom diagnostiziert. Die Krankheit ist genetisch bedingt; „das hat in mir geschlummert“, weiß der 36-Jährige. Es handelt sich um eine neuropsychiatrische Erkrankung, die durch so genannte „Tics“ charakterisiert ist. Das sind unwillkürliche rasche und plötzliche Bewegungen, bei anderen Patienten treten auch unwillkürliche Lautäußerungen auf.

Die Erfahrungen mit seiner Krankheit hat Broszius in einem Band mit Gedanken, Gedichten und Aphorismen verarbeitet. „Die Schranke im Kopf“, heißt er, ist als „Book on demand“ erschienen und für 16,90 Euro im örtlichen Buchhandel erhältlich. „Ich wollte informieren, was im Kopf von einem vorgeht, der das hat“, sagt Broszius. Das Gedicht „tic 3“ thematisiert so eine Bewegungsstörung: „Kaffee in der Tasse. Etwas Milch. / Balanceakt zum Schreibtisch. Halber Weg geschafft. / Befehl im Kopf – Arm schlägt aus – Blick zur Tasse. / Halb leer. / Kaffee auf dem Boden, Kaffee auf der Hose. / Kurzes Schmunzeln. / Shit.“

Er nimmt die Krankheit also mit Humor und meint dazu: „Ich muss wirklich lachen, wenn mir so etwas passiert.“ In einem weiteren Gedicht schreibt Broszius: „Tourette ist eigentlich gar nicht schlimm. / Stellen Sie sich eine Fahrt in der Geisterbahn vor. / Nein, Sie sitzen nicht im Wagen. / Sie sind der Wagen, und die Geisterbahn ist Ihr Kopf.“

Die Tics kommen und gehen

Als Kind war es mit den Symptomen nicht schön, die Altersgenossen hänselten ihn deswegen. Heute hilft ihm die Kunst als Therapeutikum. „Andere Patienten setzen sich zwei Stunden lang ans Klavier, ich gehe an die Staffelei. Die Krankheit ist sehr kreativ.“ Etwa ein Jahr lang hat er für das Buch gebraucht, erzählt Michael Broszius. „Die Tics kommen und gehen. Ich denk’ zum Teil auch nicht dran. Ich wundere mich nur, dass die Leute mich gleich wiedererkennen.“